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Kühlschrank

Als ich eben die Kühlschranktür öffnete, wurde es laut. In mir, in meinem Kopf. Ein vollgefüllter Kühlschrank mit so vielen leckeren Dingen, randvoll gefüllt. Das muss in etwas so sein, als würde ein Alkoholiker an der Bar stehen, all die leckeren Flaschen dort stehen und hängen sehen –und das Denken setzt aus. Die „Ess-Sucht“ ist die einzige Sucht, die nicht abstinent gelebt werden kann. Während Alkoholiker die Bar meiden, Drogenabhängige sich ein anderes Umfeld suchen, muss ich mit der täglichen Verführung fertig werden, denn essen muss ich mir täglich irgendwie trotzdem zuführen, nur im „geregelten Maß“.

Nur wie kommt man dahin?????

Ich kann zwei Unterschiede ausmachen – und erhebe damit nicht den Anspruch auf Korrektheit oder Vollkommenheit. Und die Unterschiede gelten für alle Suchtformen, nicht nur für die Esssucht!

Der erste Unterschied: Unbewusst! Ausgeknipst! Weggebeamt!
Es passiert automatisch, der Griff zur Schokolade. Ich nehme das oftmals gar nicht wahr, wenn ich beim Fernsehgucken eine ganze Tüte Chips wegfuttere. Den Nachteil, dass ich nicht viel davon genossen habe, nehme ich dann in Kauf. Ich bin wie weggebeamt, wenn ich die Kühlschranktür öffne, weil ich Mandelmilch für meinen Kaffee haben wollte, und dann gewohnheitsmäßig zu einer Leckerei greifen. Ich war ja eh grad hier und „es“ steht da ja eh so rum. Ich bin wie ausgeknipst, als ob es da ein Leben mit Bewusstsein gibt und eines ohne. Ausgeknipst, weil der Teil meines Gehirns die Regie übernommen hat, der für gewohnheitsmäßiges Handeln
zuständig ist – und in diesem Teil ist keine Ressource für Logik und Überlegen. Dieser Teil hat einfach mal die Erfahrung gemacht, dass es ja cool ist, zu essen (oder zu trinken, zu kiffen, zu shoppen, zu arbeiten, zu spielen…..) weil dann der Druck von dem, was grad war, vermindert wurde. Das Hirn will uns ja beitragen. Als das nächste Mal so ein Druck entstand aus mannigfaltigen Gründen, erinnerte sich das Hirn…“oh, das Essen hat ja letztes Mal geholfen…wollen wir nicht wieder??“ Und Zack, so entsteht eine Sucht.
Mittlerweile ist dieser Pfad der Gewohnheit so ausgetreten wie eine siebenspurige Autobahn.

Der zweite Unterschied: Ich habe irgendwie alles gedacht – und geglaubt – was mir so durch mein Hirn schoss. Ich kam gar nicht auf die Idee, das zu hinterfragen oder anzuzweifeln. Denn wenn die Gedanken so dringend daherkommen, müssen sie eine Relevanz haben, eine Bedeutung, da muss ich reagieren. Und oftmals waren es ja nicht so saubere, klare Gedanken, meist nahm ich nur so ein Gedanken-Gefühl-Brei wahr und hätte niemals nur einen Gedanken gefunden, der nur der Auslöser hätte sein können. Und oftmals ist es auch nicht nur ein Gedanke. Das Problem hierbei: Jeder Gedanke hat ein Gefühl anhängend. Wenn ich mir also des Gedankens nicht bewusst bin, so erscheint aber das Gefühl auf der Bildfläche. Und da ist wieder das Ding mit den Gefühlen: schlechte Gefühle will ich ja nicht haben. Da ich nicht gelernt habe, das anders zu managen, greife ich zum Suchtmittel.

Wo ist nun also die Lösung?

Ich kann nur über meine Lösung schreiben. Sie liegt nicht in der Willensanstrengung. Jeder Süchtige hat schon versucht, mit Willensanstrengung gegen die Sucht anzukämpfen, manchmal gelang es eine Zeitlang, manchmal nicht. Dann kommen ja wieder Bewertungen obendrauf: „Versager, nicht mal dazu bist du in der Lage. Hoffnungsloser Fall, versuch es erst gar nicht mehr…“

Kennste?

Ich habe herausgefunden, dass ich zu viel im Kopf war – und oft noch bin.
Eine Situation ist, wie sie ist, ganz neutral. Ich bewerte diese Situation aber, bin im Widerstand, obwohl die Situation schon IST, sie kommt ja nicht erst. Mit diesem Widerstand und den Urteilen, Bewertungen und Projektionen erschaffe ich mir aber meine Gefühle selbst! Wenn ich das erkenne, habe ich auch die Wahl, diese Gedanken NICHT zu denken. Das war eine wahre Offenbarung für mich, eine wahre Erkenntnis. Das Leben passiert, ob mir das nun gefällt oder nicht. Wenn ich das Leben einfach machen lasse und weniger bewerte, urteile, Angst vor zukünftigen Ereignissen im Kopf generiere, die EINE mögliche Zukunft darstellen, aber sicher nicht die einzige! – dann bin ich mehr in der Lage, WENIGER zu machen. Zurückzutreten, einfach mehr zu beobachten. Heute nenne ich es gern, einen „inneren Screenshot“ machen.
Was ist eigentlich wirklich da? JETZT! Ohne meine Urteile, ohne meine Geschichte, die ich mir und anderen dazu erzähle? Ohne in der Zukunft zu verweilen oder immer wieder Referenzpunkte der Vergangenheit hervorzuholen. Die Vergangenheit ist bereits VERGANGEN, ich krame diese Erinnerung nur immer wieder hoch und weide mich in Verletzungen und Schmerzen, die schon längst vorbei sind. Und ganz ehrlich: Da ist meistens wenig. Und plötzlich kann ich durchatmen, habe mehr Raum, die Enge verlässt mich. Ich kann es auch nicht machen, bewusster vor dem Kühlschrank zu stehen. Wenn ich das können würde, hätte ich das ja schon längst getan. Aber indem ich erkennen, dass es eine Gewohnheit ist, sehr familiäre Gedanken, die ich nie überprüft oder hinterfragt habe, weil sie gefühlt „schon ein Leben lang bei mir waren“ – kann ich mir eine Frage stellen, die auch heute immer mehr durchkommt in mein Bewusstsein.
„Warum will ich jetzt essen? Habe ich wirklich Hunger?“
Wenn es kein Hunger ist, ist es wieder irgendein Gefühl – aufgrund irgendeines unbewussten Gedankens – dass ich nicht spüren will.

Meine aktuelle Lösung für heute: ich will spüren, ich finde die Gefühlspalette mittlerweile spannend und keineswegs beängstigend. Das Gefühle bedrohlich sind, etwas, vor dem man Angst haben muss, ist AUCH nur ein Gedanke!

Und – ich habe die Kühlschranktür vorhin wieder schließen können, ohne mehr als die Mandelmilch herauszunehmen.

Eure Kerstin

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